Genauer dank Präzisionsmedizin

Siegen, 13.02.2024

Der Begriff „Präzisionsmedizin“ ist in der Region Siegen-Wittgenstein noch wenig geläufig, wenngleich er in der Fachwelt immer mehr Beachtung findet. Die neue Chefärztin der Klinik für Hämatologie, Medizinische Onkologie und Palliativmedizin im St. Marien-Krankenhaus Siegen, Privatdozentin Dr. med. Elisabeth Mack hat ihn in unsere Region gebracht. Dahinter verbirgt sich der Weg in ein neues Zeitalter in der Medizin, stehen doch genaue Diagnosen, personalisierte Therapien und weniger Behandlungsfehler dahinter. Die Ziele scheinen greifbar, doch gilt es noch, vielerorts und auf unterschiedlichen Ebenen Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Präzisionsmedizin steht nicht im Konflikt mit der bisherigen medizinischen Versorgung. Doch machen die Fortschritte im Bereich der Molekularbiologie, die Möglichkeiten der Digitalisierung in der Diagnostik und nicht zuletzt eine bessere Auswertbarkeit von Daten über Algorithmen der künstlichen Intelligenz völlig neue Versorgungskonzepte denkbar. Denn die meisten komplexen Erkrankungen entstehen nicht durch einen bestimmten Auslöser, sondern sind die Folge einer Kombination aus bestimmten Gen-, Umwelt- und Lebensstilfaktoren, von denen die meisten bisher noch nicht identifiziert werden konnten.

Diese komplexen und individuellen Aspekte einer Erkrankung und deren Entstehung trägt die Präzisionsmedizin Rechnung und berücksichtigt diese bei der Wahl aus den unterschiedlichen Therapieoption.

Vom Patienten her denken

Präzisionsmedizin betrifft Diagnostik und Therapie gleichermaßen, beide bauen sogar aufeinander auf. Während es zuerst darum geht, eine höhere Präzision bei der Diagnostik zu erreichen und unerwünschte Abweichungen zu reduzieren, steht danach eine möglichst hohe Personalisierung der Therapie bei eindeutig und präzise definierten Patientengruppen im Fokus – verbunden mit dem Anspruch, die Ergebnisse der Behandlung für möglichst viele Patienten zu verbessern. Im Ideal profitieren sie von Behandlungskonzepten, die auf Basis spezifischer Biomarker wie entitätstypischer Oberflächenantigene oder des individuellen Tumorgenoms maßgeschneidert werden.

Bislang scheiterte eine breitere Umsetzung der Präzisionsmedizin an der Zugänglichkeit zu den notwendigen Daten, doch hält die Digitalisierung in der Medizin Einzug, und es gilt nun die vorliegenden Daten sinnvoll miteinander zu verknüpfen und eventuelle fehlende Daten systematisch zu erheben. Und hier steckt noch Entwicklungsarbeit, um Hindernisse auf dem beschriebenen Weg wegzuräumen. Ein überprotektiver Datenschutz, der das Nichtverarbeiten von Daten schönfärbt, ist gegenüber einer individuellen patientenzentrierten Behandlung sorgfältig abzuwägen. Denn derjenige, der eine lebensbedrohliche Erkrankung hat, hat ein Anrecht auf eine bestmögliche Nutzung seiner Daten zur optimalen Planung von Diagnostik und Therapie. Dass Präzisionsmedizin von Patienten so gewollt ist, ist offenkundig. Es ist nämlich eine für die Lebensqualität überaus relevante Frage, ob beispielsweise eine Chemotherapie bei einem Patienten notwendig ist oder überhaupt ihre Wirkung entfalten kann.

Onkologie als Innovationsfeld

Komplementär zu patientenindividuellen Eigenschaften spielt ein immer tieferes Verständnis charakteristischer molekularer Veränderungen bei vielen Erkrankungen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung verbesserter Therapien. Herausragende Beispiele hierfür finden sich vor allem in der Onkologie. Die chronische myeloische Leukämie wurde nach Einführung zielgerichteter Therapien gegen das diese Erkrankung kennzeichnende Tumorprotein von einer lebensbedrohlichen zu einer wahrhaft „chronischen“ Erkrankung, die inzwischen mit einer normalen Lebenserwartung einhergeht. Auch beim Multiplen Myelom, einer der häufigsten bösartigen hämatologischen Erkrankungen, konnte durch präzise auf die Krankheit abgestimmte neue Wirkstoffe bzw. Kombinationen dieser neuen Substanzen eine Verdoppelung der medianen Überlebensdauer aller Patienten von drei auf sechs Jahre erreicht werden Damit können nun auch Patienten, die aufgrund von Alter und Komorbidität nicht für eine Hochdosis-Chemotherapie oder eine autologe Stammzelltherapie infrage kommen, effektiv behandelt werden.

Und überhaupt: Die Onkologie ist das mit Abstand wichtigste Innovationsfeld der medizinischen Wissenschaft. Fast ein Drittel aller zwischen 2011 und 2020 neu zugelassenen Wirkstoffe sind Onkologika und in den frühen Nutzenbewertungen des Gemeinsamen Bundesausschusses liegt die Quote bei der Anerkennung eines beträchtlichen Zusatznutzens über dem Durchschnitt. Getrieben wird diese Entwicklung wesentlich von der Entwicklung neuer individualisierter Kombinationstherapien.

Interoperabilität und Datenverfügbarkeit und Datenintegration unter verstärkter Einbeziehung auch „sensibler“ Daten wie Genomdaten, sind für Präzisionsmedizin wesentlich, allerdings erweist sich diese Herangehensweise an die Medizin auch als schlecht kompatibel mit etablierten Evidenzstandards in der Medizin. Diese Standards wiederum bilden die Grundlage für Medikamentenzulassungen und die Kostenerstattungsprinzipien unseres Gesundheitssystems. Hier besteht, parallel zu den wissenschaftlich-medizinischen Herausforderungen, noch Handlungsbedarf.

Übernahme in Regelversorgung

Abschließend ist zudem festzustellen, dass der Begriff aktuell nicht überstrapaziert werden darf, da wir uns bekanntlich erst auf dem Weg dorthin befinden. Anspruch und Ziel zugleich ist eine an Geno- und Phänotyp angepasste, personalisierte Medizin. Um dieses zu erreichen, ist das Sammeln großer Mengen an Daten von vielen Patienten an möglichst vielen Standorten erforderlich, um Korrelationen zu erkennen und daraus abgeleitete Therapien in klinischen Studien zu überprüfen. Studienzentren wie am St. Marien-Krankenhaus Siegen sind da wichtige Einrichtungen im wissenschaftlichen Räderwerk. Durch Teilnahme an Beobachtungs-/Register – oder Therapiestudien kann jeder Patient einen Beitrag leisten, um die Präzision zukünftiger onkologischer Therapien weiter zu verbessern; er kann dabei direkt von innovativen Ansätzen profitieren. Die wissenschaftlich begleitete individualisierte Medizin ist schon jetzt als eine wertvolle Weiterentwicklung der evidenzbasierten Medizin zu verstehen, die auf eine schnellere Übernahme personalisierter Versorgungskonzepte in die Regelversorgung zielen.