Wie es genau dazu kam, daran kann sich Michele Schulte nicht mehr erinnern. Beim Rennrad-Training auf der noch leicht feuchten Straße verliert sein Sportgerät aus Carbon bei Tempo 50 in einer Kurve den Kontakt zum Untergrund. Dann läuft für ihn alles wie in Zeitlupe ab: Das Rad rutscht weg. Der Sturz. Die Zeit auf dem Asphalt mit dem Blick auf die sich noch drehende Felge, an der sich erst nach und nach die Speichen abzeichnen. Gleichzeitig Stille. Und ein Schmerz, der in den Körper hineinzukriechen scheint und nach und nach stark pochend alle anderen Sinneseindrücke verdrängt.
Michele Schulte ist verletzt. Wie stark, das weiß er nicht. Es gelingt ihm schließlich, sich aufzusetzen. Die Beine lassen sich gut bewegen – nur leichte Aufschürfungen. Er will seinen Helm abnehmen, doch gelingt ihm das nicht. Sein linker Arm, den er dafür anheben möchte, reagiert kaum und nur unter Schmerzen. Die stärksten Beschwerden kommen auch von dieser Seite, von weiter oben – vom Rücken.
Partnerin startet Notfallkette
Sechs Wochen zuvor waren die Pläne für die Radfahr-Saison 2023 noch klar formuliert worden. Mit seiner Frau Nadine hatte Michele Schulte sich zwei Ziele gesteckt: Eine anspruchsvolle Alpenetappe in Tirol und eine zweiwöchige Tour durch die Dolomiten, mehrere Pässe bezwingen. Bis dahin galt es, im Zweierteam so oft wie irgend möglich Kilometer und Höhenmeter zu „fressen“ – ein Hobby, das beide mit ihren 60-Stunden-Jobs in ihrer gemeinsamen Freizeit verbindet. Nadine ist es auch, die beim folgenschweren Sturz erste Hilfe leistet und die Notfallkette in Gang setzt.
Schon zu dem Zeitpunkt steht für den ambitionierten Radsportler fest, dass seine Verletzung sportmedizinisch versorgt werden muss, damit zumindest das Ziel Italientour, zwar nicht im Sommer, aber idealerweise doch noch im Herbst erreicht werden kann. Und hier kommt für den eingefleischten Fan des sportlichen Aushängeschilds der Region, dem TuS Ferndorf, nur dessen sportmedizinische Betreuung infrage: das von Dr. med. Alois Franz geleitete Gelenkzentrum Südwestfalen am St. Marien-Krankenhaus Siegen. Seit knapp zehn Jahren begleitet der Chefarzt, der früher einen Olympia-Stützpunkt medizinisch leitete, und seine Klinik den Handball-Drittligisten.
Der erste Besuch bei deren Sportsektion bringt zunächst Ernüchterung. Unfallchirurg Dr. med. Tilman Steins formuliert es sachlich: „Das Schulterblatt ist mehrfach gebrochen und verschoben.“ Und schiebt gleich hinterher: „Das gibt es nicht oft.“ Der Eingriff sei nicht einfach und man müsse danach schauen, wie und wann es sportlich weitergehe. Zusätzlich ist noch das Schlüsselbein gebrochen, „der Klassiker“ unter den Radfahren, welches aber konservativ versorgt werden kann. Hobby-Eishockeyspieler Schulte stellt dazu ernüchternd fest: „Eigentlich wollte ich meinen eigenen ‚Strava-Rekord‘ (Radsport-App) brechen, gebrochen habe ich mir dieses Mal aber nur die Knochen.“
Ziel weiter im Blick
Es folgt ein Klinikaufenthalt mit einer mehrstündigen Operation, bei der Titan die zerstörten Teile des Knochens ersetzt. Der Deutsch-Italiener braucht fortan immer eine Bescheinigung, die dem Personal an den Sicherheitsschleusen eines Flughafens bestätigt, dass das Metall im Innern tatsächlich nicht abgelegt werden kann wie eine Gürtelschnalle. Das beschäftigt ihn jedoch nicht. Wichtig für den Sportler ist nur, dass sein Körper das „Ersatzteil“, wie Schulte es nennt, verträgt und er schnell wieder auf sein Velo kann. „Gut, dass Titan ein Leichtmetall ist, denn das Bergfahren fällt mir schon schwer genug. Außerdem haben die ‚Jungs‘ schon einen neuen Nickname für mich entdeckt: CycleBorg.“ Seinen Humor hat Schulte jedenfalls nicht verloren. Ebenso hat er sein sportliches Ziel weiter fest im Blick und hat sich aus der Rehabilitation heraus schon eine Reise auf die Mittelmeerinsel Sardinien ausgeguckt. Einen Teil der etwa 2000 Kilometer langen Küstenlinie möchte er im Herbst noch mit dem Rennrad abfahren. Ihn reizen zudem die hervorragenden Wassersportmöglichkeiten und die schroffe Landschaft der zweitgrößten Insel Italiens. Und dass dieses Ziel für in erreichbar bleibt, dafür sorgt das Team um Dr. Steins, für den Michele Schulte nur lobende Worte findet. Der Unfallchirurg gibt dann auch eine günstige Prognose ab.
Mit dem Beintraining hat Rennradfahrer Schulte bereits begonnen und arbeitet nun mit seinem Physiotherapeuten daran, die notwenige Stabilität und die Kraft in der Schulter für die Tour zu gewinnen. „Wenigstens habe ich auf dem Fahrrad-Ergometer nicht das Problem unglücklich zu stürzen“, schmunzelt der Sportler, doch ziehe es ihn wieder auf die Straße, um im Herbst im Zweierteam mit seiner Frau das ehrgeizige Projekt absolvieren zu können. Wichtig für ihn: Er möchte in Kontakt bleiben – nicht nur mit dem sportmedizinischen Team im St. Marien-Krankenhaus Siegen.